Ableismus in Diagnosen (1)
Über eugenische Erbschaften in der Medizin und Benennung als Definitionsmacht.
Antispe Ability, Pegi und Palang
Entwurf, 1.Nov. 2025
Warum muss man mit der Bezeichnung eines Syndroms leben, das nach einem Arzt benannt ist, dessen Geschichte selbst von Ableismus, Paternalismus oder sogar eugenischem Denken geprägt war?
Dieser Konflikt ist kein theoretischer: Er betrifft reale Menschen – Freund*innen, wie jene mit dem sogenannten Rett-Syndrom, oder auch jene mit dem sogenannten Down-Syndrom.
Die Gesellschaft nimmt solche Begriffe in der Regel nur als neutrale Bezeichnungen wahr – verknüpft sie mit medizinischen Beschreibungen und den unterstützenden Gemeinschaften, die sich um sie gebildet haben. Doch wie ist es für Betroffene selbst, wenn die Bezeichnung, unter der sie geführt werden, eine Geschichte trägt, die sie abwertet?
Wenn Definitionen Lasten tragen
Syndromdefinitionen können medizinisch hilfreich sein – etwa im Hinblick auf Symptome, Therapien oder genetische Aspekte. Aber zugleich transportieren sie alte Denkmuster über „Geist“ und „Fähigkeit“, die aus einem ableistischen Verständnis heraus entstanden sind.
Wer einem Syndrom „untergeordnet“ wird, steht damit unter einer doppelten Fremddefinition: medizinisch und gesellschaftlich.
Besonders problematisch wird es, wenn Sprechbehinderungen oder nicht-normative Kommunikationsformen automatisch mit „geistiger Behinderung“ gleichgesetzt werden. In unseren Texten über „geistige“ beHinderung und Kommunikation [https://simorgh.de/disablismus/was-heisst-hier-geistig-behindert/
] haben wir bereits gezeigt, dass solche Zuschreibungen nicht nur konzeptuell falsch, sondern zugleich auch zutiefst diskriminierend sind. Und wir machten auf die Notwendigkeit der Differenzierung aufmerksam, die etwa darauf hinausläuft, dass wir sagen können: Einschätzungen über kognitive Fähigkeiten müssen sich aus Kongnitivableismus hin selbst überprüfen; Sprachverständnis muss im Sinne eines komplexeren Ansatzes über Kommunikation gedacht werden, als soweit landläufige Begriff es uns erlauben; eine Sprechbehinderung ist keine kognitive Defizienz; Conflation-Risk ist in an Schnittstelle von Kognition und Sprache gegeben.
Kommunikationsverständnisse
Menschen mit dem sogenannten Rett-Syndrom erleben diese Zuschreibungen besonders deutlich. Studien, etwa jene, die wir auf https://simorgh.de/disablismus/?s=rett vorgestellt haben, zeigen: Medizin und Therapie beginnen langsam zu erkennen, dass Konzepte über Sprache und Kommunikation, sowie Kognition und Intelligenz weitaus komplexer gedacht werden müssen als das bislang der Fall gewesen ist.
Kommunikationsrechte müssen im Falle von Sprechbehinderung als Grundrechte begriffen werden. Aber das allein reicht nicht > Wenn das soziale Modell von Behinderung ernst genommen werden soll, wie die beHindertenrechtsbewegung es verlangt, dann müssen wir zu den Wurzeln der Zuschreibungen zurückkehren um die Fehlerquellen eindeutig identifizieren zu können.
Wir müssen fragen:
Was wurde mir zugeschrieben – und von wem?
Wie kam es dazu?
Stimmt es überhaupt in meinem Fall?
Und wie kann ich mich dagegen wehren?
Gerade beim Kognitivableismus und bei einer Pathologisierung von Sprachrezeption und Kommunikationsfähigkeit [Speech Divergence] muss gelten: Nichts über uns – ohne uns.
Wer benannt hat, beanspruchte damit auch eine Definitionshoheit
Wie kann es sein, dass wir im 21. Jahrhundert Krankheiten und Behinderungen immer noch nach ihren „Entdeckern“ benennen – als handle es sich um Gebiet, das in Besitz genommen wurde?
Das Rett-Syndrom ist ein Beispiel dafür, wie eine eugenische Denktradition fortlebt – verborgen in einem erstmal neutral wirkenden Namen: Andreas Rett (1924 in Fürth geboren – später österreichischer Staatsbürger, verstorben 1997), nach dem das Syndrom benannt wurde, war in jungen Jahren Mitglied der NSDAP [1]. Nach dem Krieg stieg er in Österreich zu einem führenden Kinderneurologen auf. Doch seine Haltung blieb von einer tiefen Differenz geprägt, die er zwischen „Gesunden“ und „geistig behinderten“ Menschen ausmachen wollte.
Seine Praxis, so dokumentiert u. a. Volker Schönwiese, verband paternalistische Fürsorge mit klar exkludierenden und eugenischen Ideen: Zwangssterilisationen, die Reduktion sexueller Gewalt auf Fragen der „Fortpflanzungskontrolle“, der Einsatz nicht zugelassener Medikamente an Kindern.
Mehrere Quellen, darunter die Masterarbeit von Lena Monsberger (2020) und zahlreiche historische Recherchen österreichischer Medien, belegen diese Zusammenhänge. Die Kontinuität eugenischen Denkens nach 1945 zeigt sich gerade darin, dass Menschen wie Rett nicht als Täter, sondern als „Vorkämpfer für behinderte Kinder“ erinnert wurden.
Leben unter einem Namen
Wie fühlt es sich an, mit einem solchen Namen als Bezeichnung für die eigene beHinderung zu leben?
Und wie ist das, wenn man täglich mit einer Diagnose konfrontiert zu sein, deren Bezeichnung selbst eine Form von Gewalt enthält? Nur ohne die Annahme dieser Bezeichnung würde man im Gesundheitssystem nicht medizinisch erfassbar sein.
Die Gesellschaft mag sagen: „Es ist doch nur ein Name.“
Aber Namen sind an solcher Stelle nicht einfach neutral. Sie strukturieren Wahrnehmung, Hierarchie und Wert und sie haben sowohl eine Geschichte dessen, der den Namen trugt, und dessen, welche Zuschreibungen und Denkweisen diese Benennung mit sich brachte und mit sich bringt. Der Blick auf die beHinderung ist geleitet von den somit abgesteckten „Gebiet“. Und über beHinderung einfach so eine Meinung zu sagen, das geht ja nicht. Das muss medizinisch erst abgenickt werden, sonst … . Und gerade wenn es um Kognition und Sprache geht, da lässt sich die Normen festlegende Gesellschaft doch nicht lumpen! Ironie off.
Würden Sie, gerade in Ihrer beHinderung nach jemandem benannt werden wollen, der ihr eigenes Menschsein herabgewürdigte auf solche Weise, und wenn diese Benennungen auch noch eben genau jene Folgen haben, dass ein verengendes, falsches Denken über das eigene Menschsein sich immer weiter fortsetzt, nur weil manches an der Geschichte von Syndrom-Bezeichnungen zutreffend sein mag. Wird hier nicht eine Schablone erzeugt, bei der man aufpassen sollte, wie ein Bild über den Träger den Syndroms generiert wird auf den Analyse-Ebenen, insbesondere wenn es um den geistig-kommunikativen Bereich geht. Hier treten die lange verschleppten Probleme damit hervor, dass Systeme rund im Sprach- und Kommunikationsverständnis nicht umfassend genug sind, um sich ein Urteil über den Geist eines Menschen leisten zu dürfen.
Die Frage, die unsere Menschenrechte anbetrifft, ist im Falle bestimmter Erfahrungen mit beHinderung ja vor allem eine Frage der Geschichte des „Normalen“ und des „Nicht-Normalen“ und dessen Bewertung als automatisch defizitär. Unrecht konnte und kann mit der Begründung einer Defizienz in Hinsicht auf geistige und kognitive Belange ausgeübt werden, auf mehr oder weniger allen sozialen Ebenen. Und es ist interessanterweise auch in der Tat ganz generell so, dass eigentlich jede Form der Abwertung immer auch auf eine Abwertung des Geistigen, denkerischen ‚Raums‘ abzielt. Und Sprache und Kommunikation sind hierbei natürlich dann ganz wesentliche Player in den Evaluationsfragen.
Es steht auf jeden Fall fest: Medizinische Terminologien sollten nicht in die Definition von Geist in irgendeiner entwürdigender Weise hineinwirken dürfen!
Plädoyer für eine neue Sprache
Wenn wir ernsthaft eine anti-ableistische Gesellschaft wollen, dann müssen wir > das soziale Modell von Behinderung als Standard verstehen. Diagnosen dürfen niemals über den Geist eines Menschen gestellt werden. Jede Zuschreibung, die geistige Eigenschaften mit Defiziten verbindet, verletzt menschliche Grundrechte und reproduziert Gewalt.
Die Diskussion über Neurodivergenz muss unserer Auffassung nach daher auch mit unterstützen, dass der gesamte Bereich des sogenannten Geistigen neu gedacht wird, jenseits der alten Dichotomien hierarchisierender- und insbesondere der das Kommunikative zerstörenden hochwirksamen „In-Abrede-Stellenden“ Normen (…).
Die Behinderung, die heute Rett-Syndrom genannt wird, beinhaltet Aspekte, die dem neurodivergenten Spektren zuzuordnen sind. Eine Neurodivergenz ist keine Minderung, sondern eine weitere Facette geistiger Vielfalt. Kein Mensch ist die Summe medizinischer Parameter. Identität darf nicht ableistisch eingegrenzt werden.
Solange Namen wie „Rett“ oder „Asperger“ fortbestehen, erinnert jeder Satz der Diagnose an ein Erbe der Gewalt. Betroffene sollten diese Namen nicht tragen müssen, sondern es wäre wichtig an neuen verbesserten Wegen der Beschreibung suchen, die von Grund auf Wesentliches mit bezeichnen und die auch kein Entdeckertum in den Mittelpunkt rücken.
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[1] Im Zusammenhang wichtig zu erwähnen wäre auch: „Dennoch sickerten immer mehr Ex-Nazis in den roten Ärztebund ein. Unter ihnen befanden sich später prominente Professoren, wie etwa der Kinderneurologe Andreas Rett und der Psychoanalytiker Hans Strotzka.“ profil (2005, Januar 15). Zeitgeschichte: Die rote Nazi-Waschmaschine – Wie die SPÖ-Akademiker Nazis reinwuschen. profil. https://www.profil.at/home/zeitgeschichte-die-nazi-waschmaschine-102743 [Zugriff: 01.11.2025]
Allgemeine und weiterführende Verweise. Zum Thema gibt es noch etliches an sehr wichtigen Quellen, die wir hier leider nicht mit aufgeführt haben … dies bitten wir zu entschuldigen
Beiträge auf simorgh.de/disablismus
- Simorgh.de (o. J.): Unzureichende Intelligenztests und Schwerstbehinderung.
https://simorgh.de/disablismus/unzureichende-intelligenztests-und-schwerstbehinderung/ [Zugriff: 1. 11. 2025]. - Simorgh.de (o. J.): Kommunikation und Barrierefreiheit (1).
https://simorgh.de/disablismus/kommunikation-und-barrierefreiheit-1/ [Zugriff: 1. 11. 2025]. - Simorgh.de (o. J.): Kommunikationsrechte und das Rett-Syndrom.
https://simorgh.de/disablismus/kommunikationsrechte-und-das-rett-syndrom/ [Zugriff: 1. 11. 2025].
Medizin- und sozialhistorische Quellen zu Andreas Rett
- Der Standard (2017): Das Erbe des Nationalsozialismus spürt man in der Behindertenhilfe noch.
https://www.derstandard.at/story/2000061481891/das-erbe-des-nationalsozialismus-spuert-man-in-der-behindertenhilfe-noch [Zugriff: 1. 11. 2025]. - Kondziella, D. (2018): The Nazi past of Vienna’s neurologists: Lessons from history.
In: Molecular Autism, 9(40).
https://molecularautism.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13229-018-0208-6 [Zugriff: 1. 11. 2025]. - Zeidman, L. A. & Zeidman, J. (2011): Neuroscience in Nazi Europe, Part I: Eugenics, Human Experimentation, and Mass Murder.
In: The Canadian Journal of Neurological Sciences, 38(6), 696–703.
https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/763DE15BF1025CA915C725EB02139FEC/S0317167100054068a.pdf [Zugriff: 1. 11. 2025]. - Schönwiese, V. (2012): Individualisierende Eugenik. Zur Praxis von Andreas Rett.
In: BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben (Hrsg.): wertes unwertes Leben, Wien, S. 69–82.
http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-rett.html [Zugriff: 13. 3. 2017]. - Monsberger, L. (2020): Medizin und Behinderung unter Dr. Andreas Rett – ideologische Diskurse und Entwicklungslinien.
Masterarbeit, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, Universität Wien.
https://doi.org/10.25365/thesis.64082 - Die Presse (2013): Tatort Kinderheim: Heime als regelrechte Gulags.
https://www.diepresse.com/1291206/tatort-kinderheim-heime-als-regelrechte-gulags [Zugriff: 1. 11. 2025]. - ORF Ö1 (2013): Zwangssterilisation in Kinderheimen.
https://oe1.orf.at/artikel/317528/Zwangsterilisation-in-Kinderheimen [Zugriff: 1. 11. 2025]. - ORF Wien (2017): Rett-Klinik: Zwangssterilisierungen und Abtreibungen an jungen Frauen.
https://wien.orf.at/v2/news/stories/2830573/ [Zugriff: 1. 11. 2025].
Kontextliteratur zur Ideologiegeschichte
- Schönwiese, V. (Hrsg.) (2012): wertes unwertes Leben. Beiträge zur Geschichte der österreichischen Behindertenhilfe. Wien: BIZEPS.
- Waldschmidt, A. & Dederich, M. (Hrsg.) (2007): Selbstbestimmung, Behinderung und Genetik. Münster: Lit-Verlag.
Uns wurde in dem Kontext empfohlen:
- Tremain, S. (2017): Foucault and Feminist Philosophy of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press.
